Der Wald der Selbstmörder in Japan (2024)

Die von Seen und Wäldern gesäumte Landschaft rund um Japans heiligen Berg Fuji gehört zu den schönsten und ungerührtesten Regionen des Landes. Ausgerechnet hier gibt es einen Ort, der im letzten Jahrhundert traurige Berühmtheit erlangt hat: Der sogenannte ‚Selbstmord-Wald‘ Aokigahara.

Der Aokigahara-Wald, der sich unter dem Nordwesthang des Fuji über eine Fläche von mehr als 3.000 Hektar ausbreitet, ist eigentlich ein wunderschöner Ort. Doch er hat ein trauriges Geheimnis, das ihm im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem zweiten Namen verholfen hat: „The Suicide Forest“, der Wald der Selbstmörder.

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Aokigahara – der Wald der Selbstmörder

Kaum ein Ort in Japan ist für lebensmüde Menschen so berüchtigt wie der Aokigahara in der Yamanashi Präfektur. Es ist ein dichter dunkler Wald, durch den auch an sonnigen Tagen kaum Sonnenstrahlen dringen. Die Bäume stehen hier so dicht, dass der Wald in Japan auch als Aokigahara Jukai, das ‚Meer aus Bäumen‘ bezeichnet wird.

Weil die Pflanzen auf Lava gewachsen sind, gibt es hier besonders viele unterirdische Höhlen und Kompasse funktionieren nicht. Die japanische Fremdenverkehrszentrale schreibt dazu auf ihrer Homepage, dass man die Wanderwege nicht verlassen sollte, da man sich im Dickicht des Waldes schnell verlaufen kann. Tatsächlich findet man hier häufig Plastikbänder zwischen den Baumstämmen, die anderen Menschen vermutlich zur Orientierung dienten, um sich nicht zu verirren.

Der Wald der Selbstmörder in Japan (1)

Bänder und Absperrungen werden auch von der Polizei und freiwilligen Suchtrupps genutzt, wenn diese durch den Wald streifen, um mögliche Selbstmörder oder zurückgelassene Gegenstände zu suchen. Zahlreiche Menschen haben sich hier abseits der Zivilisation und unter dem Schutz der Bäume das Leben genommen. Wie viele es genau waren, wird man vermutlich nie erfahren, denn die japanische Polizei veröffentlicht seit 2013 keine Zahlen mehr zu den Toten, die im Aokigahara gefunden werden. Laut Angaben der Japan Times haben 2010 insgesamt 247 Menschen versucht, sich im Wald umzubringen – 54 davon „erfolgreich“.

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„Das Leben ist wertvoll“

Die Behörden der Yamanashi Präfektur haben in den letzten Jahren zahlreiche Maßnahmen eingeführt, um die Selbstmordrate im Aokigahara-Wald zu senken und das Image des Naturschutzgebietes aufzupolieren. An den Haupteingängen wurden Sicherheitskameras installiert und in Schnellkursen geschulte Freiwillige patrouillieren durch das Gebiet, um potentielle Selbstmörder von ihrem Vorhaben abzubringen. Auch Hinweisschilder mit Notrufnummern am Wegesrand sollen lebensmüde Menschen daran erinnern, wie wertvoll das Leben ist. So liest man beispielsweise:

„命は親から頂いた大切なもの. もう一度静かに両親や兄弟、子供のことを考えてみましょう. 一人で悩まずまず相談してください.” (zu Dt.: „Das Leben, das deine Eltern dir geschenkt haben, ist wertvoll. Denke bitte noch einmal an deine Familie, an deine Eltern, Geschwister und die Kinder. Leide nicht alleine, sondern ziehe Hilfe zu Rat.“)

In alten Überlieferungen hieß es, dass Menschen im Jukai unwiederbringlich verloren gehen und so wird der Wald schon seit jeher mit dem Tod und Geistern der japanischen Mythologie assoziiert. In der VICE-Dokumentation Suicide Forest in Japan erzählt der Geologe und Umweltschützer Azusa Hayano, dass Familien ihre Ältesten in Zeiten der Hungersnot hier aussetzten, um selbst am Leben bleiben zu können. Zahlreiche Japaner meiden das ‚Meer aus Bäumen‘. Trotz seiner überwältigenden Schönheit warnen viele vor einem Besuch – zu zahlreich die Legenden, zu kowai (jap. für unheimlich) das Areal, in dem laut Erzählungen Yurei, japanische Geister, umherwandern.

Der Wald der Selbstmörder in Japan (2)

Warum der Aokigahara-Wald so viele Selbstmörder anzieht

Warum aber kommen so viele Menschen hierher, um Selbstmord zu begehen? Es sind vor allem literarische Werke, die den Aokigahara als besonders „reizvollen“ Ort zum Sterben hervorgehoben haben. So löste der japanische Schriftsteller Seicho Matsumoto 1960 mit seinem Roman Nami no to (zu dt. „Der Wellenturm“), in dem sich eine unglücklich verliebte Frau im Aokigahara das Leben nimmt, eine regelrechte Suizidwelle aus. 1977 erschien dann eine weitere Novelle, in der ein Liebespaar im Aokigahara-Wald Doppelselbstmord begeht.

Auch der umstrittene Bestseller The Complete Manual of Suicide (1993) (zu Dt. „Handbuch zum Selbstmord“) von Wataru Tsurumi, der in Japan mehr als eine Million mal verkauft wurde, empfiehlt den Wald als geeigneten Ort zum Sterben.

Zudem inspirierte Aokigahara auch zahlreiche Filmschaffende, Mangas und Anime, die sich den zahlreichen Legenden um den Aokigahara widmen und den Wald dadurch weiter mystifizieren. Bis heute ist die Selbsttötung in Japan nicht in dem Maße tabuisiert, wie das in christlich geprägten Gesellschaften der Fall ist.

Der rituelle Freitod Seppuku (umgangssprachlich und im Ausland ist der Begriff Harakiri geläufiger) ist sogar eine Tradition aus der Ära der Samurai. An dem Freitod aus Gründen der Ehre hielten japanische Offiziere noch weit bis ins 20. Jahrhundert fest.

Der Wald der Selbstmörder in Japan (3)

Japans Kampf gegen die hohe Selbstmordrate

Heute hat sich der Umgang mit dem Thema Suizid in Japan gewandelt. Das Land hat eine der höchsten Suizidraten der Welt. 2016 haben sich hier insgesamt 21.897 Menschen das Leben genommen. Vergleicht man die Zahl der Selbstmorde mit den vorigen Jahren, dann ist zwar ein rückläufiger Trend erkennbar, aber nach Einschätzung der Regierung befindet sich die Suizidrate des Landes noch immer auf einem „kritischen“ Niveau. Laut Experten sind unter anderem wirtschaftliche und gesundheitliche Faktoren, Leistungsdruck sowie die übermäßige Arbeitsbelastungfür die im internationalen Vergleich sehr hohe Suizidrate verantwortlich.

Die Regierung hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Maßnahmenkataloge und Präventionskampagnen ins Leben gerufen, um die hohe Zahl der Selbstmorde im Land zu senken. Auch Beratungszentren und Telefon-Hotlines bieten lebensmüden Menschen Hilfe und Unterstützung an. Experten sehen aber auch das japanische Gesundheitssystem in der Verantwortung. Im Umgang mit Menschen, die an Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen leiden, werden üblicherweise Medikamente verschrieben statt auf Gesprächstherapie zu setzen.

Dass Prävention und die psychologische Unterstützung von Suizidgefährdeten vielen Betroffenen hilft, beweist auch die mühevolle Arbeit der Freiwilligen, die Tag für Tag in den Aokigahara strömen, um potentielle Selbstmörder von ihrem Vorhaben abzubringen. Hideo Watanabe, der ein Café nahe des Waldeingangs betreibt, hat nach eigener Aussage in 30 Jahren mehr als 160 Menschen davor bewahrt, im Aokigahara Selbstmord zu begehen. Im Gespräch mit der Japan Times äußerte er dazu: „Die Menschen, die den Wald für einen Ausflug besuchen, kommen selten alleine hierher. Wenn ich also jemanden sehe, der alleine unterwegs ist, dann spreche ich diese Person an, suche ein Gespräch. Nach wenigen Momenten ist es meist nicht mehr schwierig festzustellen, ob derjenige hierher gekommen ist, um sich selbst zu töten.“

Suizidgedanken sind häufig eine Folge psychischer Erkrankungen. Solltet ihr euch selbst zum Kreis der Betroffenen zählen und nach Hilfe suchen, dann findet ihr sie etwa bei der Telefonseelsorge unter den kostenlosen Rufnummern 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222. Die Berater sind rund um die Uhr erreichbar und die Anrufe sind anonym. Hilfe für Angehörige Suizidgefährdeter bietet auch der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker unter der Rufnummer 01805 950 951 und der Festnetznummer 0228 71 00 24 24

Bildrechte: Flickr | Steve Boland (CC BY-NC-ND 2.0) | Patrik Ragnarsson (CC BY-NC 2.0)| Yoshihide Urushihara (CC BY-SA 2.0)| Simon Desmarais (CC BY-SA 2.0)

Der Wald der Selbstmörder in Japan (2024)

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